Heute beschäftigen wir uns mal mit Lehrers Lieblingsbeschäftigung. Dies sind nicht Konferenzen (die sind auf Platz zwei) sondern mit unnützen Konferenzen. (Die sind nicht nur auf Platz eins sondern bilden auch die deutliche Mehrheit). Zunächst einmal ein Blick auf die Verspätungslage an deutschen Schulen:
In ländlichen Bereichen – ich konnte da meine Lehrererfahrungen in Stade sammeln – fährt morgens ein Schulbus. Wer den verpasst bleibt der Schule für den gesamten Schultag erspart. Dies passiert deshalb auch sehr selten. Sollte sich einmal der Schulbus verspäten (auch selten), so hatte das Transportgut keine andere Möglichkeit und ist somit entschuldigt.
In Hamburg fährt der HVV und bietet reichlich Möglichkeiten für dumme Ausreden – die leider von der Mehrheit meiner Lehrerkollegen akzeptiert werden.
In Berufsfachschulen ist es nicht selten, dass zum Beginn der ersten Stunde schon fast drei Viertel der Klasse anwesend sind – das sind gute Tage. Eine Zeit lang hatte ich einen Raum, der auf der Außenseite keine Klinke, sondern einen Knauf hatte. In dieser Zeit hatte ich so gut wie keine Verspätungen, da ich den Raum nach dem Klingelzeichen nicht mehr geöffnet habe. Dieses System der direkten Rückmeldung haben die Schüler recht früh kapiert und begriffen: „Unterricht beim BTFH heißt pünktlich aufstehen“. Auf diese Weise hatte ich fast zwei entspannte Jahre und die Schüler kaum Verspätungen bei mir. Irgendwann nahm das Schicksal seinen bösen Lauf und die Schulleitung erhielt Kenntnis von diesem Verfahren. Statt das bewährte Verfahren zum Standard zu erklären und alle anderen Räume mit Knäufen zu versehen wurde meiner mit einer Klinke ausgestattet und mir das „Aussperren“ verboten. Hintergrund war, dass die Eltern eines der faulsten Schüler sich beschwert hatten. An des Schulleiters Stelle hätte ich einfach nur gesagt: „Wecken Sie Ihr Kind doch rechtzeitig!“
Ab jetzt hatte ich das „weltliche“ Problem meiner verehrten Lehrerkollegen. Ich begann den Unterricht mit einer halbvollen Klasse und mußte über 90 Minuten permanent den Unterricht unterbrechen, da irgendjemand zu spät den Raum betrat. Als freundlicher BTFH bin ich nicht in der Lage, eine solche Situation zu ignorieren:
Schülerin betritt ohne Anklopfen die Klasse und versucht sich auf den Platz zu schleichen. BTFH: „Wenn Du dich einfach reinschleichst und ich es nicht bemerke, bleibst Du für die komplette Stunde als fehlend im Klassenbuch. Willst Du das?“
Sie: „Nein, aber Sie haben mich doch jetzt gesehen“.
BTFH: „Ja leider, denn jetzt müssen wir über Dein Benehmen sprechen.“.
Sie: „?“.
BTFH: „Also noch einmal raus und wir üben das“.
Die Schülerin verlässt den Raum und latscht genau so wieder rein und murmelt etwas über einen guten Morgen. Nach der freundlichen Korrektur, das dies kein guter Morgen sein könne, da sie sich gerade eine Menge Ärger einhandele, referiere ich über übliche Bräuche, wie z.B. das Anklopfen und auf ein „Herein“ warten. Als ich gerade zu einer praktischen Übung zu diesem Thema ansetzen will, kommt der nächste Schluffi durch die Tür gehuscht und aus dem Einzelunterricht in Sachen Benehmen wird immerhin schon eine Gruppenphase.
Nächster Versuch. Zwei EA Schüler verlassen den Raum, klopfen, warten auf „Herein“ und betreten den Raum, murmeln etwas von einem guten Morgen, der sich von einem solchen immer weiter entfernt und versuchen, auf den Platz zu schleichen.
Um nicht die Übersicht zu verlieren trage ich die stattgefundene Belehrung zum Thema Klopfen und auf „Herein“ warten in das Klassenbuch ein, damit die Kollegen wissen, das zu diesen Thema – zumindest formal – kein Zweitunterricht mehr stattfinden muss. Zumindest kann sich niemand mehr mit Unwissenheit herausreden.
Nach erfolgtem Eintrag – 30 Unterrichtsminuten sind inzwischen verstrichen – folgt also die Belehrung bezüglich der Notwendigkeit einer Entschuldigung. Sofern es keine gibt, empfehle ich die Sprechgruppe „Ich bitte um harte und gerechte Bestrafung“.
Also Fortsetzung der praktischen Übung: den beiden Ursprungsdeliquenten haben sich inzwischen zwei weitere hinzugesellt. Da diese wiederum ohne Klopfen eingetreten sind und um die restliche Klasse am Unterricht zu beteiligen, lasse ich die Regeln über das Anklopfen aus der Klasse heraus wiederholen. Dies gelingt beim siebten Versuch. Sechs Schüler haben offensichtlich nicht meinen salbungsvollen Worten gelauscht und werden sich zuhause deshalb mit den Aufsatz „Der Sinn von gutem Benehmen am Beispiel des Türklopfens“ vergnügen dürfen. Inzwischen ist es etwas leiser geworden, da ich inzwischen sieben Störer vor die Tür gebeten habe. Diese geniessen das Schauspiel von sechs Zuspätkommern (plus zwei) beim Versuch, den Klassenraum zu betreten, von der anderen Seite der Tür.
Mir kommt spontan die Idee, noch mehr Störer nach draußen zu bitten. So könnte ich in der Übungsvorbereitungsphase (die Zuspätkommer sammeln sich vor der Tür) den Raum wenigstens für ein paar Sekunden für mich alleine haben.
Die Sechserübgruppe betritt nach Klopfen und Abwarten des „Herrein“ den Raum. Immerhin kann ich heute schon das Erreichen eines operationalisierbaren Unterrichtszieles verbuchen!
„Wir entschuldigen uns für unser Zuspätkommen.“
“FALSCH! Ihr könnt Euch nicht entschuldigen. Der Sinn einer Entschuldigung ist es, dass jemand anderes die Schuld von Euch nimmt. Ihr könnt Euch nicht selber von Eurer Schuld befreien. Ihr müßt mich bitten, Euch von Eurer Schuld zu befreien. Deshalb heißt es ja auch Ich bitte um Entschuldigung“. Inzwischen frage ich mich, wofür der Deutschlehrer ein Gehalt bekommt.
Ich trage die Belehrung zur Entschuldigung in das Klassenbuch ein – noch 30 Minuten der Doppelstunde verbleiben und ich beginne daran zu zweifeln, heute noch mit dem Unterricht beginnen zu können. Inzwischen sind neun verspätete Schüler zusammengekommen.
Neue Übung. Inzwischen sind noch sieben Schüler im Raum. Bei denen hatte ich noch keine Gelegenheit zum zeitweiligen Unterrichtsausschluss – sie beherrschen das Schlafen mit offenen Augen einfach zu gut.
Es klopft, „Herein“, die Gruppe tritt ein. Der Gruppensprecher: „Wir bitten Sie um Entschuldigung“. „Das kommt darauf an“. Fragende Blicke. „Aber wir haben doch alles richtig gemacht“. „Nein, ihr seid zu spät gekommen“. „Aber wir haben uns doch entschuldigt“. „Ihr könnt Euch nicht entschuldigen. Das muss ich machen und ich mache meine Entscheidung davon abhängig, ob Ihr einen triftigen Grund dafür habt.“
Also gehen wir die Begründungen durch. Während der erste Schüler befragt wird, beginnen zwei andere aus der Verspätungsgruppe ein Palaver – also Unterrichtsausschluss vor Unterrichsbeginn für sie.
Begründung S1 Eins: „Ich habe verschlafen“. Ich glaube, es ist Zeit, eine „Tavor“ einzunehmen. Ich belehre den Schüler also, dass Verschlafen nicht entschuldigungsfähig ist und lasse ihn Platz nehmen. Nachdem ich im Klassenbuch die entsprechende Belehrung eingetragen habe, bemerke ich, dass ich mich beeilen muss. Es sind noch sechs Verspätungsbegründungen zu prüfen und der Unterricht endet in 10 Minuten, noch bevor er begonnen hat.
Die vier Schüler, die noch sitzen (der Rest hat „Außenlandegenehmigung“) hören aufmerkam zu.
S2: „Mein Bus war zu spät“. Dieser Schüler erschien 17 Minuten zu spät. Ich rufe also Google Maps auf meinem Mobiltelefon auf und lasse mir die Adresse nennen. Der Schüler wohnt also fast 700 Meter von der Schule entfernt und wartet 17 Minuten auf den Bus. Ich vermute einen einstelligen IQ und versuche, ihm zu erklären, dass er 15 Minuten vor Beginn des Unterrichts an der Haltestelle stehen muss. Sollte der Bus zehn Minuten vor Unterrichtsbeginn noch nicht da sein, so müsse er in der Lage sein, die Schule zu Fuß zu erreichen. Seine Begründung, er kenne den Weg zu Fuß zur Schule nicht, läßt mich endgültig die Notwendigkeit der Einnahme zweier Tavor erkennen.
Ich beende den Unterricht vorzeitig, trage die letzte Belehrung ins Klassenbuch ein und warte auf die Wirkung der Tablette. Den restlichen Tag habe ich im Tiefschlaf im Lehrerzimmer verbracht – eine dokumentierte Psychische Erkrankung hat doch seine Vorteile. Derweil hatte ich süße Träume: Meine Lehrerkollegen, die von meinen intensiven Bemühungen, Pünktlichkeit durchzusetzen profitieren, würden dies (a) bemerken und (b) mir danken. Mann träumt schon manchmal seltsame Träume.