Im Landkreis Stade (Niedersächsisch Sibirien) haben wir eine multikulturelle Mischung: Straßen- und Onlineverbindungen entsprechen dem provinziellen Standard afrikanischer Entwicklungsstaaten, die Kreisverwaltung ist was Technisierung und Bürgernähe angeht zwischen Kaiserzeit (Umgangston) und 80er Jahren (Faxgerät) und das Wetter erinnert an den tropischen Regenwald – nur ohne Tropen und ohne Wald.
Doch manchmal – aber nur manchmal – werden wir Zeugen eines großartigen Ereignisses, wir müssen nur lernen, sie richtig wahrzunehmen.
Entlang der Straße zwischen Freiburg an der Elbe und Balje ist etwa die Hälfte der Strecke als Baustelle ausgeschildert und die Geschwindigkeitsbeschränkung ist entsprechend auf 50 km/Stunde abgesenkt. So weit, so vorbildlich. Nur wird an dieser Baustelle leider nicht gebaut. Wann genau die Baustelle eingerichtet wurde, weiß ich nicht genau – irgendwann in 2021 wird es wohl gewesen sein. Es sind viele Kilometer.
Was will mir eine Baustelle sagen, auf der weder Bauarbeiter noch Maschinen zu sehen sind? Allein das Absperrgerät dürfte doch locker dem Kaufpreis eines mittelgroßen Neubaubungalows in Blankeneser Toplage entsprechen. Warum lässt man das Material hier so verrotten?
Meine erste Reaktion war, diese Installation tatsächlich für eine Baustelle zu halten und mich darüber zu ärgern, dass die Tempo-50-Ausschilderung mir Lebenszeit raubt, ohne dass gebaut wird. Da ich die Strecke häufiger fahre erhöhte ich bald meine Tagesdosis an Antidepressiva und entdeckte die Schönheit der Entschleunigung. Grundsätzlich halte ich mich gerne an Vorschriften. Darin liegt eine gewisse Sicherheit – nicht umsonst lernt man bei der Führerausbildung der Bundeswehr: „Eine Vorschrift ist ein Rettungsring. Sie hilft dem Anfänger und behindert den Könner“.
Zweifellos wäre eine Welt erstrebenswert, in der es nur sinnvolle Regeln gibt und sich dafür alle daran hielten. Sicher gäbe es in einer solchen Welt auch eine Regel die besagt, dass für Baustellen gilt: Ausschildern, Bauen, Abbauen – ohne epische Pausen dazwischen.
Weitere 100 entschleunigte Reisen später stellten sich neue Erkenntnisse ein: Der Landkreis kann gar nicht hinter dieser Baustelle stecken! Ein Blick auf unsere durchschnittliche Straße zeigt: Wir sind denen scheißegal! Deshalb entwickelte ich Thesen, die aufwendige Beschilderung zu erklären.
Möglichkeit 1: Die Baustelle ist eine Fälschung! Jemand hat hier investiert, um die Kreisverwaltung in Misskredit zu bringen.
Möglichkeit 2: Es handelt sich um ein gruppendynamisches Anwohnerprojekt zur Verkehrsberuhigung. Dafür spricht, dass die Ausschilderung krumm und schief ist – die Baken stehen nicht in einer Flucht (oder nur in einer sehr, sehr großzügigen) und die Schilder für die Geschwindigkeitsbegrenzung stehen auf dem stark abschüssigen Seitenstreifen und nehmen dort Winkel zwischen 20° und 40° ein, bevor sie kippen. Die Tatsache, dass sie regelmäßig wieder aufgestellt werden, stützt meine Anwohnerthese.
Möglichkeit 3: Es war doch der Landkreis! Kennen Sie die Elbphilharmonie? Damit wollte sich einmal ein Hamburger Bürgermeister – der Herr Voscherau mit den Fiffi auf dem Kopf – ein Denkmal setzten. Es kam etwas anders als geplant; Kosten und Bauzeit vervielfachten sich und wenn die Elbphi je ein Denkmal wird, dann für Größenwahn und Inkompetenz. (Auf dem Höhepunkt der Posse – Hamburg schafft es nicht, ein Konzerthaus zu bauen – bewarb die Hamburger Politprominenz sich für die Olympischen Sommerspiele. Selig sind die… Rübennasen?)
Kennen Sie übrigens den schönen Witz, über die Regierenden Bürgermeister von Berlin, Hamburg und Stuttgart? Nicht? Also: Der Hamburger Bürgermeister fragte bei Gott an, wann die Elbphi fertig wird, bekam eine Antwort, lachte und stellte befriedigt fest: „Bis dahin bin ich nicht mehr im Dienst“. Er übergab das Telefon dem Berliner. Dieser fragte nach seiner Flughafenbaustelle, bekam eine Antwort, lachte und stellte fest: „Bis dahin bin ich nicht mehr im Dienst.“ Das Telefon ging weiter an den Stuttgarter, der einen Bahnhof tieferzulegen hatte. Die Antwort war Lachen: „Bis dahin bin ich nicht mehr im Dienst“.
Einen derartigen Größenwahn möchte ich unseren Stader Fürsten gar nicht unterstellen, oder nur einen etwas geringeren. Das Stadeum ist schon gruselig genug – vielleicht schützt das vor weiteren Versuchen. Allerdings handelt es sich bei Dauerbaustellen ja inzwischen um ein deutsches Kulturgut. Längst werden erste Baustellen unter Denkmalschutz gestellt – da kann unsere Kreisverwaltung natürlich nicht zurückstehen. Man sagt, sie wären noch einen Schritt weiter gegangen und haben das Baudenkmal schon an die UNESCO gemeldet, um sich als erste deutsche Dauerbaustelle den Titel eines Weltkulturerbes zu sichern. (Vielleicht kam der Brief an die UNESCO auch von mir).
Wie dem auch sein, der Leser muss sich entscheiden, eins, zwei oder drei! Welche dieser drei Theorien soll es sein?
Der Landkreis könnte lösen, indem er endlich bauen lässt. Sollte kein Bau geplant sein, vielleicht einfach spontan, wenn die Bürger schon die Absperrung erledigen. Ansonsten überlege ich, als Spielverderber zu fungieren. Wie groß ist der Lagerraum des Stader Fundbüros? Wie sind die Bürozeiten? Muss ich größere Lieferungen vorher ankündigen?