Freilich kann der BTFH hellsehen! Eine Kristallkugel ist dafür allerdings nicht notwendig. Eigentlich ist Hellsehen ja nichts weiter als Statistik. Wer ein „Werkzeug“ kennt, beim Raten eine Trefferquote oberhalb von 50% erreicht, kann dies schon als Hellseherei verkaufen.
Es gibt ganze Berufsgruppen, die vom Kaffeesatzlesen leben. So sind die Meteorologen z.B. die Rekordhalter: Für 55% Wahrheit bekommen sie 100% Gehalt. Vielleicht sollte ich Barometer mit Münzeinwurf aufstellen?
Besonders leicht ist das Hellsehen in der Schule.
Dabei meine ich nicht die triviale Hellseherei (Kollege M. kommt heute im Cordanzug oder Kollege S. erscheint heute mit ungeputzen Schuhen) – die wären ja zu leicht durchschaubar. Zum Beispiel kann ich die Anwesenheitsquoten sehr gut abschätzen: 75% Anwesenheit in der ersten Stunde bzw. erhöhte Krankheitsausfälle am Montag sind schon interessante Phänomene.
Besonders angetan war einmal ein Arzt. Nachdem eine Schülerin noch nie eine Klassenarbeit am angekündigten Termin mitgeschrieben hatte – das Fehlen bei Klassenarbeiten muss durch Attest belegt werden – habe ich mir Ihre Atteste etwas genauer angesehen: Es war immer der gleiche Arzt und der maschinelle Aufdruck führte neben dem Datum auch immer die Uhrzeit der Ausstellung auf – in der Regel gegen 11:00 Uhr.
Am Tage vor der nächsten Klassenarbeit rief ich dann in dieser Praxis an und ließ mich mit dem Mediziner verbinden. Ich stellte mich mit Namen vor und nannte als Beruf „Hellseher“. Mein Gesprächsparter war hörlich verwirrt. („Sichtlich“ scheint mir bei einer reinen Sprechverbindung unangebracht – immerhin bin ich zwanghaft).
Es geht um Ihre Patientin F. – sie ist heute quietschfidel und erfreut sich allerbester Gesundheit. Ich habe sie gerade noch gesehen. Morgen früh wird sie sich unwohl fühlen und Sie gegen 10:00 Uhr aufsuchen.
Das machte meinen Gesprächspartner neugierig und ich hörte ihn am Computer tippen. Offensichtlich hatte er die Datensätze Fs geladen und festgestellt, dass sie zwar sehr häufig aber nicht nach einem für ihn erkennbaren System krank wurde. Deshalb lüftete ich das Geheimnis: „Morgen ist eine Klassenarbeit in Multimediaproduktion“. Ich gab anschliessend noch die Termine der vergangenen Klassenarbeiten durch und wir kamen zu dem Schluss, dass wohl eine akute Erkrankung an Faulfieber vorlag.
Das Ende ist schnell erzählt. Die Fauline flog achtkantig aus der Praxis. Da sie zu faul war, direkt um 8 Uhr zum Arzt zu gehen und es ein Mittwoch war – da hat Nachmittags keine andere Praxis geöffnet, gab es eine dicke Sechs für eine geschwänzte Klassenarbeit. Kein Attest – kein Nachschreibetermin.
Dieses Spiel habe ich häufiger gespielt – es brachte immer wieder Spaß. Fast alle Ärzte haben gerne mitgemacht. Zum Teil hatten die Arzthelferinnen in ihrer Funktion als „Büroschranke“ ein noch größeres Vergnügen und das bewährte Systen „Lernen durch Schmerzen“ hat mir so manche Nachschreibearbeit erspart.
Die Steigerung kam mit dem E-Leaning, das es den Ärzten ermöglichte, die Klassenarbeit direkt an einen freien PC in der Praxis schreiben zu lassen, ich musste nur einen Link schicken.
Üblicherweise werden Schüler am Tage einer Klassenarbeit krank, weil die Kollegen zu faul sind. Statt eine anständige Nachschreibearbeit zu entwerfen (die natürlich viel schwerer ist als das Original), lassen sie den an Faulitis Erkrankten die Originalarbeit nachschreiben. Der Inhalt ist natürlich inzwischen bekannt und ohne großen Aufwand gibt es eine gute Note – so einfach ist das; und einen freien Tag gibt‘s außerdem.
Jetzt hat der Lehrer also die Wahl: entweder einen offensichtlichen „Sausack“ eine gute Note erschleichen lassen oder die doppelte Arbeit beim Klassenarbeitsentwurf. Warum aber soll ich mir für einen einzigen Knalli die doppelte Arbeit machen oder die Faulheit belohnen? Meine Hellsehermasche hat sich bestens bewährt.
Wer seine Arbeiten in den ersten Stunden schreiben läßt, kann übrigens auch in der ersten Pause noch den Hausarzt anrufen. Die Faulisten gehen selten vor elf zum Arzt. Ein Doc, der halbwegs anständig ist, wird einen Schüler, der sich an einem Klassenarbeitstag vorstellt, sehr genau untersuchen 😉
Manchmal wünsche ich mir da die pragmatischen Erziehungsmethoden der Bundeswehr zurück. Da wurden zum-Arzt-Verpisser sehr genau untersucht – schliesslich darf ja keine gefährliche Krankheit übersehen werden. Wer sich am Tage des Leistungsmarsches krank meldete, musste schon mal eine Magenspiegelung oder die Betrachtung vom anderen Ende – auch „Große Hafenrundfahrt“ (oder beides) über sich ergehen lassen. In der Regel wurden zukünftig die Märsche mitgelaufen – das tut sich niemand zweimal an.
Allein schon die Zeit, die die Krankfeierei den Lehrer kostet: Eintrag ins Klassenbuch, „Austragen“ des Fehltages bei Vorlage einer Entschuldigung, Archivieren der Entschuldigungen, Verhängung von Attestauflagen und zu guter letzt das minutengenaue Ausrechnen der Fehlzeiten – unterschieden nach entschuldigt und unentschuldigt – zweimal im Jahr für die Zeugnisse. Konferenzen, Protokolle, …
Manche Schüler übertreiben es derart mit dem Krankfeiern – auch an Tagen, an denen keine Arbeiten geschrieben werden – dass auch hier pädagogisches Handeln notwendig wird. Hier kommt zunächst einmal die Attestauflage in Frage. Ist die erst einmal erteilt, so reicht der Schrieb von Mami nicht mehr aus. Überhaupt sind viele Entschuldigungen von Eltern wahre Unverschämtheiten. „Meine Tochter konnte wegen Kopfschmerzen nicht zur Schule kommen“. Da musste ich doch anrufen und fragen, ob sie die 1,65EUR für Paracetamol selbst aufbringen könne oder ob ich für sie einen Antrag auf finanzielle Unterstützung beim Schulverein stellen solle. Entschuldigungen wegen „Unwohlsein“ hatte ich zu hunderten. Bei solchem Blödsinn kann es nur eine Antwort geben: sofortige Attestauflage. Der Einfachheit halber habe ich schon bei der Einschulung für jeden Schüler eine Attestauflage mit ausgedruckt und nur das Datum offen gelassen. In der Regel hatte ich zwei Drittel davon bis zu den Halbjahreszeugnissen ausgegeben.
Mit manchen Ärzten hatte ich den Deal, dass der kranke Schüler ein Attest bekommt, der Simulant eine „Bescheinigung über einen Besuch beim Arzt“. Letztere ist nicht geeignet, die Attestauflage zu erfüllen – also ein unentschuldigter Fehltag und eine Konferenz.
Konferenzen bringen leider nichts, aber der Amtsschimmel will ja wiehern.
Was bei unentschuldigten Fehltagen geht – aber leider wieder Schreibkram ist – ist ein Bußgeldbescheid an die Eltern. Auch dieses Formular hatte ich bald als Serienbrief fertig. Ich mußte nur noch den Schüler aus der Klassenliste auswählen und es entstand ein Serienbrief mit folgenden Inhalten: Einladung zur Disziplinarkonferenz an Eltern, Lehrer, Vertrauenslehrer, Schulleitung, Kollegen; Protokoll der Konferenz, Beschluss der Konferenz, Antrag auf Festsetzung eines Bußgeldes. Somit hatte ich den gesamten Schreibkram pro Fall in drei Minuten im Griff. Die unentschuldigten Fehltage wurden zusammen mit den Schülerdaten gleich in alle Formblätter übernommen. Warum eigentlich muss ich als Lehrer selber an so einer Lösung basteln? Wäre es nicht viel leichter, wenn der Dienstherr so etwas zentral organisieren würde?
Warum ist es eigentlich nicht möglich, den Dauerabsentisten das Kindergeld zu streichen? Als ein Schüler nach den Weihnachtsferien nicht mehr auftauchte, habe ich Recherchiert. An der Meldeadresse war er nicht mehr erreichbar. Nach der Aussage von Klassenkameraden war er bei Verwandten in Ausland und hatte gar nicht vor, nach Deutschland zurückzukommen. Ich habe alle zustandigen Behörden informiert und auch versucht herauszufinden, wer bei der Familienkasse zuständig ist. Alles ohne Erfolg – das Kindergeld wurde weiter ausgezahlt.
Die einzigen Schüler, bei denen Schwänzen direkt und merklich ans Geld geht, sind BAFöG-Empfänger. Bei denen reichen drei unentschuldigte Fehltage, um alle Hilfen zu streichen. So weit so gut – nur wissen das die Lehrer leider nicht. Für einen Normallehrer ist es ziemlich schwer festzustellen, ob ein Schüler BAFög bekommt und wenn ja, welche Stelle dafür zuständig ist. In der Regel versenden die BAFöG-auszahlenden Stellen ein Informationsschreiben, doch die kommen selten beim Fachlehrer an.
Der „Kampf“ gegen schwänzende Schüler – immerhin eine pädagogische Aufgabe – gerät so zum Kampf gegen Windmühlen. Hilfe: keine.
So gesehen bin ich doch kein Hellseher – bitte nennt engagierte Lehrer zukünftig Don Quichotte. Für mich ist der Kampf beendet – laut eines Gutachtens des Personalärztlichen Dienstes werde ich mit schweren Depressionen und Angstzuständen nicht mehr als Lehrer einsetzbar sein. So viel Sekt wie mir diese Entscheidung wert ist, könnte meine Leber selbst dann nicht verarbeiten, wenn sie 50% meines Körpergewichtes ausmachte.
Noch ein Witz zum Schluss: Theoretisch muss der Lehrer bei Fehlen eines minderjährigen Schülers unmittelbar nach Feststellen der Abwesenheit die Eltern anrufen. Bis alle Lehrer mit den zur Verfügung stehenden drei Telefonleitungen der Schule dieses erledigt hätten (zuhause anrufen – niemand da, Vater auf der Arbeit anrufen – ist gerade nicht zu sprechen, Mutter auf Mobiltelefon anrufen – geht nicht ran, das ganze meist noch in verschiedenen Sprachen oder unter Hinzuziehen eines Dolmetschers) wäre der Unterrichtstag vorbei, ohne dass auch nur eine Minute unterrichtet wurde.