Die meisten Menschen zieht es bei der Wohnungssuche vom Land zur Stadt. Logisch wäre es aber anders herum.
Einst war ich glücklicher Hamburger, genoss die kurzen Wege und die lange Zeit um diese im Stau zurückzulegen. Ich erfreute mich am Sport- und Kulturangebot einer Großstadt und nutzte dieses reichlich aus.
Irgendwann wurden mir die Menschen um mich herum zu viel und ich zog mich immer mehr zurück und verbrachte zunehmend Zeit in meiner Wohnung. Ich hasste den permanenten Lärm.
Irgendwann entschied ich mich dazu, einen Segelkurs auf der Alster zu absolvieren, kauft sehr spontan ein Boot (7m, 4 Schlafplätze) für kleines Geld bei Ebay und machte mich auf die Suche nach einen neuen Heimathafen – für die Alster wäre das Boot ein Nümmerchen zu groß.
Schnell merkte ich, dass Elbabwärts bis etwa Stade Hamburger Immobilienpreise gelten. Zudem musste ich lernen, dass Stade zu weit von der Nordsee entfernt ist, um sicher mit einer Tide dorthin zu gelangen – und gegen die Tide ist mit einem Sportboot keine gute Idee.
Also suchte ich weiter in Mündungsnähe und erlebte, dass mit jeder Radumdrehung in Richtung See die Immobilienpreise sanken und die Landschaft schöner wurde.
Letztendlich landete ich in Freiburg an der Elbe. Dieses ist der äußerste „Zipfel“ des HVV-Geltungsbereiches, ich bin also Nahverkehrstechnisch noch Hamburger 😉
Was hier draussen ausfällt ist die perfekte Ruhe. Etwa 50% des Straßenverkehrs entfallen auf die Pflegedienste – viele der Häuser, die im Schnitt 300qm haben dürften werden von einer alleinstehenden Dame zwischen 70 und 90 Jahren bewohnt.
Auf dem Einwohnermeldeamt musste ich etwas Zeit mitbringen: Etwa drei Minuten für Klopfen, Eintreten und den Akt der Anmeldung und dann etwa eine Stunde für einen ausführlichen Vortrag über das Dorf, die Menschen, einer Liste von Leuten die ich kennen sollte. Nach einer kurzen Frage nach meinen Erwartungen bekam ich auch gleich die Ansprechpartner in den Vereinen sowie andere potentielle Hobbykollegen genannt.
Grundregeln des Dorflebens: Was sich bewegt ist zu Grüßen. Der Gruß lautet „Moin“.
Als dauergehetzter Hamburger war ich es gewohnt überall anzustehen und immer schon das passende Kleingeld in der Warteschlange abzuzählen. Hier wird auf Ruhe wert gelegt. Kein Drängeln und kein Zappeln – es gibt ja schliesslich auch keine Schlangen – nicht einmal am Postschalter.
Der Ort – ich nenne unsere Gegend „Niedersächsisch Sibirien“ – liegt inmitten einer Einöde, in die Jahrzehnte keiner freiwillig zuzog. Wer konnte ging. Das Ergebnis ist das völlige Fehlen von Bausünden! Wer Beton sucht, der sucht vergebens. Da eine Sturmflut vor etwa 150 Jahren das Dorf Komplet vernichtete, wurde es an gleicher Stelle wieder aufgebaut und besteht jetzt aus einen historischen Baubestand, bei denen sich die einzelnen Häuser nur um wenige Jahre unterscheiden. Meines ist von 1987 und steht unter Denkmalschutz.
Alle Häuser hier sind Unikate, durchgängig aus der Gründerzeit – also im Jugendstil. Noch nie habe ich einen so sauberen Ort gesehen. Müll oder Schmierereien gibt es nirgends.
Es gibt alle Geschäfte des Täglichen Bedarfs – aber fußläufig im Ort. Supermärkte auf der grünen Wiese wären hier undenkbar. Überhaupt ist hier alles Barrierefrei.
Die Versorgung mit Kindergarten und Schule ist ebenfalls gegeben. Lediglich zum Gymnasium muss eine kurze Busfahrt in Kauf genommen werden.
Bei uns gibt es den „Dorfarzt“, die Fachärzte finden sich in den umliegenden Gemeinden- notfalls in Stade, aber dahin fährt der Bus.
Die Kinder – und zwar alle – grüßen freundlich und schauen einen an während sie „Moin“ wünschen. Außerdem verfügen sie alle über eine hervorragende Körperkoordination, die man bei Stadtkindern vergeblich sucht. Möglicherweise, weil es hier kein Handynetz gibt.
(Wir planen gerade ein flächendeckendes Freifunk-Netz).
Das hiesige „Social Network“ heißt „draußen spielen“.
Da Wasser hier durch zwei Häfen und ein Spülbecken (das Spült die Häfen vom Schlick frei) allgegenwärtig. Während in städtischen Gegenden jeder Gartenteich mit einer Tiefe von mehr als 15cm akribisch eingezäunt wird, um das Nachbarskind vor Ertrinken zu retten, sind Spielplätze, der Kindergarten und auch die Sandkiste am Hafen direkt am Wasser. Dieses ist möglich durch eine geniale Erfindung: Der Schwimmweste. Die kleinen Steppkes bekommen hier eine solche, die sie selber nicht ablegen können. Fallen Sie hinein, so sind sie – je nach Tide – entweder nass oder schlammig.
So bald Kinder laufen können, werden sie im Sommer zu Seglern gemacht – manchmal bevor sie Fahrrad fahren können. Dafür hat der örtliche Segelverein 12 „Optimisten“. Das sind Minisegelboote, in die je ein Kind gesetzt wird. Unterrichtet wird mit minimaler Theorie. Die Segelschüler werden durch mehrere Boote mit Erwachsenen begleitet, die „unterwegs“ die nächsten nötigen Handgriffe zeigen. Schon nach wenigen Stunden können die Kleinen die Boote alleine handhaben.
So ist es wenig verwunderlich, dass der Segelverein (Motorbootfahrer sind auch willkommen) zu den größten Vereinen vor Ort gehört. Die Jahresmitgliedschaft liegt irgendwo bei 50 Euronen, dafür dürfen alle Vereinsboote (die Optis, ein paar Jollen und eine voll ausgestattete Segelyacht) genutzt werden.
Tipp: Wer in Hamburg wohnen bleiben möchte und gerne segelt, der tritt einfach ein und verbringt die Wochenenden vor Ort auf der vereinseigenen Yacht, wenn er nicht gerade damit auf Weltumsegelung ist.
Im Ort gibt es zwei Häfen. Die Liegegebühren sind ebenfalls minimal.
Die Samtgemeinde besteht aus mehreren Orten und etwa 7.000 Menschen. Darauf entfallen etwa 170 Flüchtlinge. Durch diese „Verdünnung“ haben sie keine Chance, sich der Integration zu entziehen. Sie lernen durchweg schnell die deutsche Sprache und werden zum Teil der Gemeinschaft.
Freiburg selber hat etwa 1.700 Einwohner.
Die Immobilienpreise beginnen hier bei etwa 10.000€ (Haus, ca. 80qm, renovierungsbedürftig). Für 50.000€ finden Sie ein Haus, das bezugsfertig ist, mit moderner Heizung und neuen Fenstern. Nach oben gibt es erfahrungsgemäß keine Grenze.
Wird hier vom „Neubauviertel“ gesprochen, so ist die Siedlung gemeint, die nach dem Krieg (dem zweiten) gebaut wurde. Hier kann man ein Reihenhaus unter 300€ mieten.
Spoiler: Jetzt kaufen
Im Moment gibt es zwei Gründe, warum die Preise bald anziehen werden:
irgendwann – unsere Enkel könnten es noch erleben – wird der Elbtunnel bei Drochtersen wirklich gebaut. Wenn dann auch die Autobahn nach Hamburg angeschlossen ist, dann kommt man in Rekordzeit nach Hamburg, Bremen und Kiel – falls das Auto dann überhaupt noch interessant ist.
2) Home Office. Als ich herzog hatte ich die Möglichkeit, mich mit 4kBit/s down und 0,12KBit/up mit dem Internet zu verbinden. Mit etwas Geduld hat dies für eine Mail mit Bildanhang gereicht. Unter Umständen war der Empfang eines Videostreams mit sehr geringer Bildqualität und wenigen Unterbrechungen möglich. Inzwischen liegt die Glasfaser in der Ortsmitte und über die vorhandenen Kupferleitungen zum Haus kommen bei manchen schon echte 100MBit/s an. Ab Sofort kann vor hier aus also im Home-Office gearbeitet werden. Jetzt schnell sein, bevor es sich rumspricht!
Welche Freizeitmöglichkeiten gibt es?
Auf Tanzturniersport und Iaido musste ich hier leider verzichten. Wir haben hier ein riesiges Vogelschutzgebiet. Das schützt davor, Touristenschwärme mit dem PKW einfallen um an den Strand zu kommen. Im Sommer wimmelt es hier von Fahrradtouristen, das ist viel angenehmer. Übrigens schützt ein Vogelschutzgebiet auch vor militärischen Tiefflug als Lärmquelle.
Die Natur ist traumhaft und allein um unseren Ort gibt es 40km Wanderwege. Am Fahrradhelm erkennt man die Touristen, am fehlenden Helm die einheimischen Roller- und Motorradfahrer.
Unser Veranstaltungszentrum ist der Historische Kornspeicher. 80 ehrenamtliche Helfer sorgen für ein breites Kulturangebot – ich steuere zweimal pro Woche einen Tanzabend bei, außerdem baue ich dort im Februar und März meine Carrerabahn (inzwischen 100m) für öffentliche Rennen auf. Darüber wurde sogar in Funk und Fernsehen berichtet.
Hier weiß man auch jederzeit, wo der Autoschlüssel ist: Er steckt. Die meisten Haustüren sind unverschlossen.
Während ich diesen Artikel tippe war gerade ein älterer Nachbar da, der in eine kleinere Wohnung zieht und jemanden sucht, den er seine antiken Möbel schenken kann. Ich habe leider schon zwei Lagerräume bis unter die Decke voll und musste ablehnen.
Als ich hierherzog habe ich mich dem örtlichen Uhrmacher als Sammler vorgestellt. Ein halbes Jahr später hat er seinen Laden geschlossen und mir seine komplette Werkstatteinrichtung samt Maschinen und Ersatzteilen geschenkt.
Wenn mal etwas getragen werden muss, dann gibt es eine kurze WhatsApp in die Nachbarschaftsgruppe und nach Minuten finden sich Hilfswillige. Am Bootshaus findet sich jeden Sonntag jemand, der einen oder mehrere Kuchen spendet und auch sonst findet das soziale Leben hier reichlich und eher unorganisiert statt. Wer Gesellschaft sucht, der setzt sich einfach an den Hafen.
Deshalb habe ich auch mein Haus einem bestimmten Projekt gewidmet:
Ich suchte eigentlich „etwa kleines“, ein Zimmer für mich, ein Hobbyraum, ein Schlafraum und ein Zimmer für meine Papageien. Spontan verliebt habe ich mich in eine schwerst sanierungsbedürftige Bauruine mit ca. 360 qm auf drei Etagen. Die Deckenhöhen liegen zwischen 3,60m und 4,50m im Dachgeschoss.
Inzwischen steht fest: Es wird ein Männerhort (natürlich nicht kommerziell): Wenn Frau einkaufen geht, darf sie ihren Mann hier zum Spielen abgeben, für artgerechte Haltung wird gesorgt. Geplant sind Billiardzimmer, Flipper- und Kickerraum, Dart, Brettspielezimmer, Pokerraum, Carrerazimmer, Kino mit Playstation, Bar, Sportraum, Sauna und Whirlpool. Dazu ein paar Gästezimmer für Spieler, die ein paar Tage bleiben wollen. Ein eigener Tanzsaal ist schon fertig. (Im Rahmen der Genderkorrektheit dürfen natürlich auch die Frauen mitspielen).
Da ich (fast) alle Arbeiten in Eigenarbeit erledige – auch z.B. den Fensterbau – wird die Fertigstellung noch etwa zehn Jahre dauern. Der Kaufpreis des Hauses entsprach ziemlich genau dem, was in meiner hamburger WEG zuletzt für einen Tiefgaragenstellplatz gezahlt wurde. qed.