Bei der Bundeswehr hat alles seine Ordnung. Wenn also ein Hansel im Personalamt feststellt, dass einen Offizier der Zugführerlehrgang fehlt (Ein Zug ist eine Gruppe von etwa 30 Soldaten), dann wird dieser Lehrgang – der eigentlich ins dritte Ausbildungsjahr gehört) notfalls auch im zwölften Dienstjahr nachgeholt. Egal ist dabei, ob der Offizier inzwischen schon viel größere „Gebinde“ geführt hat oder gar an verantwortlicher Position im Kriegseinsatz diente. Für mich war dieser Lehrgang der Abschluss meiner Dienstzeit als Zeitsoldat. Meine Zielvorstellung war die Beurteilung „Zum Zugführer nicht geeignet“, ich habe sie bekommen. 😉
Der Ausbildungsleiter und ich – wir kannten uns schon und wussten, dass wir uns nicht mögen. Er war ein typischer Karriereoffizier. Über seine Fähigkeiten als Pilot wurde wenig gutes berichtet, er trug einen „großen Namen“ mit militärischer Vergangenheit und wußte, dass dieses mindestens für den Dienstgrad eines Obristen reichen würde. Einsatzerfahrung hatte er keine. Sein Spitzname war Jesus – oder vollständig: Jesus Christ Superstar.
Zum Glück war ich nicht der einzige altgediente Teilnehmer. Mein bevorzugter Mitstreiter war Christian, ebenfalls 58. Offizieranwärterjahrgang. Wir kannten uns also seit zwölf Jahren, haben lange – auch jetzt wieder – auf „Doppelhütte“ gelegen und hatten beide schon die „innere Kündigung“ ausgesprochen, es ging uns also nur darum, noch einmal Spaß zu haben. (Hallo Christian, wenn ich Deinen Namen google, erhalte ich über eine Mio Treffer, finde dich also nicht. Kannst Du dich mal melden?)
Zum Lehrgangsabschluss gehörte es dann, dass jeweils zwei Kandidaten eine Ausbildung organisieren und durchführen mussten. Das konnte zum Beispiel eine Schießausbildung auf der Schießbahn sein. Tödlich langweilig, wenn man bereits zigmal Gefechtsschiessen auf den Truppenübungsplatz geleitet hatte.
Wir bekamen unsren Auftrag als letzte: eine zweitägige Durchschlageübung mit 50 Kilometern Maschstrecke, dabei vier Ausbildungsstationen. Zusätzliches Personal: keines. Marschteilnehmer: 30.
Da wollte Jesus uns also verarschen! Kurze Teamabsprache: Der Auftrag ist OK. Jesus Gesichtszüge entgleisten.
Wer nicht sehr beliebt ist und nur den Dienstweg kennt, den kann man überraschen. Die Teilnehmer stellten mehrheitlich erst einmal einen Antrag auf Flugstunden, um per Hubschrauber die zugeteilten Ausbildungsgebiete aus der Luft zu erkunden. Natürlich wurden alle abgelehnt. Höhnisch verkündete Jesus, dass Lehrgangsteilnehmer mit Sicherheit keine Flugstundenzuteilungen bekämen, wenn nicht einmal er als Lehrgangsleiter einen Hubschrauber anfordern könne.
Am nächsten Tag standen zwei VBH (Verbindungs- und Beobachtungshubschrauber) meines Regimentes bereit. In einen übernahm ich das Steuer. So wurden dann alle zur Lufterkundung über ihre Einsatzgebiete geflogen. Zuvor habe ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, beim Leiter vorstellig zu werden. Da er sich ja darüber beklagte, dass er als Lehrgangsleiter keine Flugzuteilung bekam, habe ich ihn einfach zwei Stunden aus meinem Budget angeboten. Ich würde ihn auch persönlich pilotieren. Er wollte nicht.
Für die eigentliche Übung habe ich dann zwei Transporthubschrauber CH53 angefordert, um die Marschgruppe in den Übungsraum zu fliegen: Hier mussten wir leider hinter den feindlichen Linien notlanden. In diese Richtung, 50km geht es nach Hause, hier ihre Landkarten.
Zum Übungsende gab es dann eine Rettungsaufnahme mittels Windenbergung, dazu wurden leichte Transporthubschrauber benötigt.
Jesus tobte. Keine Flugstunden für Lehrgangsteilnehmer! Hätte er doch nur seine Lehre aus den Erkundungsflügen gezogen. OK, er wusste, dass es in meinem Regiment keine Transporthubschrauber gibt. Mit einen Blick in meine Personalakte hätte er aber gewusst, dass ich zeitgleich mit seinem Vorgesetzten in Bosnien war. Er leitete als Oberstleutnant (OTL) die deutsche Staffel und ich war als Oberleutnant auf dem Divisionsgefehtsstand eingesetzt – also sein „Vorgesetzter“.
Dieser OTL war nun Pilot für MTH – also den Hubschraubertyp, den ich fürs rausfliegen brauchte. Als Jesus zu toben begann, kam seine Stimme aus dem Nebenraum: Haben Sie den Flugantrag schon zerrissen? Das war ein Fehler, den Auftrag fliege ich, ich brauche noch CTP-Stunden. (CTP = Combat Training Program).
Fast weinend überprüfte unser Lehrgangsleiter dann noch den Flugantrag für die Rettungsaufnahme mittels Winde. Er frage nur: „Und wie haben Sie das angestellt?“. Naja, ich war halt auf einen Kaffe im Aufenthaltsraum der Fluglehrer und habe gefragt, was gerade unterrichtet wird. Im Übungszeitraum ist winchen dran. Streng genommen fordere ich also keine Hubschrauber an sonder die Hubschrauber fordern uns als Übungsballast an. Dieser Teil der Übung musste später leider wegen ungeeigneter Witterung ausfallen.
Für die eigentliche Übung mussten wir ein wenig improvisieren. Normalerweise hätten wir etwa zehn Personen zur Durchführung benötigt: Marschüberwachung, Verpflegungsfahrten, Gefechtsstand, … Wir waren zu zweit. Somit war unser „Wolf“ (Mercedes Geländewagen), den wir bei der Bodenerkundung trotz intensiver Versuche nicht am Berg auf die Seite kippen konnten, unser mobiler Gefechtsstand. Die Übung wurde so angelegt, das tagsüber geschlafen wurde und nachts wurde marschiert. Das hatte den Vorteil, dass wir relativ frei die Marschaufsicht führen konnten, während wir die Lehrgangsleitung fröhlich in die Irre leiten konnten – die haben nicht viel von uns oder der Truppe gesehen.
Außerdem kontrolliere ich auch gerne meine Vorgesetzten – wenn sie wie der Jesus gestrickt sind. Deshalb haben wir bei der Marschvorbereitung die Strecke mittig durch einen Golfplatz gelegt. Zwar hatte keine der Teilnehmer seine Eisen dabei, aber Jesus war am zweiten Marschtag damit ausgelastet, auf wütende Anrufe zu reagieren. „Oh, ein Golfplatz? Das haben wir bei der Planung übersehen, war bestimmt auch schwer zu sehen, sie haben ihn ja auch nicht auf der Karte entdeckt.“
Als letztes mussten wir noch die vier Ausbildungen entlang der Stecke organisieren. Leider war unser theorielastige Lehrgangsleiter ein kleiner Fehler unterlaufen. Statt vier praktische Dienste – also z.B. Abseilen, überwinden von Hindernissen, etc. hatte er tatsächlich Ausbildung angeordnet. Das bedeutet Klassenzimmer! Welch ein Elfmeter!
Am Tag der Übung war dann ein ganz besonderes Ereignis: Dienstaufsicht! Der Zuständige Offizier für Ausbildung war anwesend, der Schulkommandeur und noch ein paar andere „Großkopferte“ – immerhin war diese Übung ja auch der Abschluss des Lehrganges. So mußte unser Hörsaalleiter dann erst einmal zugeben, dass er genau ZWEI Offiziere mit dieser Aufgabe betraut hat.
Ich lies also antreten für meine zwei Unterrichte und lies im Wald ein Klassenzimmer bauen. Jesus reichte ich inzwischen alle drei Minuten ein frisches Taschentuch. Als die Dienstaufsicht fragte, warum ich Baumstämme zu Bänken aufstellen lies, händigte ich meinen Auftragszettel aus. „ich weis auch nicht, warum unser Leiter hier Unterrichte wollte – vielleicht sollen wir und für die zweite Hälfte des Marsches schonen.“
Einen Moment lang musste ich improvisieren. Einer der „großen“ war gerade meinem Regiment zuversetzt worden. Sein Name: HHH (spirch: Triple-Äitsch). Im wirklichen Leben war es HoppelHaseHermann. Er hatte etwas Pech mit seinen Schneidezähnen und damit auch mit seiner Aussprache, die eher an Roger Rabbit erinnerte.
Seit er im Regiment spukte hatte ich immer ein kleines „Häschengebiss“ – also zwei lange Plastikzähne in einer der 14 Taschen meiner Uniform.
Als HHH auf der Bildfläche erschien habe ich den ersten geplanten Unterricht spontan aufgegeben und habe stattdessen folgendes Thema unterrichtet:
Ernährung mit Lebendverpflegung: Die Kleintierfalle. Mit Hilfe von Ästen, Bändern und Steinen zeigte ich den Soldatennachwuchs also unterschiedliche Möglichkeiten, des Kleintierfangs. Als letztes zeigte ich die Konstruktion einer Hasenfalle, Ließ mein Handgelenk durch die Schlinge fangen, steckte mir die Hasenzähne auf. (Damit gewann ich eine Wette, dass ich diese Zähne einmal in Gegenwart HHHs tragen würde). „Wie sieh schehen können, hängt dasch Häschchen jetzscht in der Falle. H-H-H“.
Das Publikum gröhlte – am lautesten HHH, der seinen Spitznamen offensichtlich nicht kannte.
Unterricht zwei, nach einer kurzen Pause. Die Schüler saßen wieder im „Klassenraum“.
Ich baute einen großen Stapel Bücher vor mir auf und kündigte eine Dichterlesung an. Der französische Dichter Antoine de St. Exupery – ein Nationalheld, der einst den 50-Franc-Schein zierte, war ein hervorragender Fliegerpionier. Nachdem ich ein paar Leseproben aus „Nachtflug“ zum besten gab, las ich in voller Länge den „Kleinen Prinz“ vor.
Die Dienstaufsicht war begeistert, es gab Dank für die Literaturtipps. Einiges Schulterklopfen später verabschiedete sich die Dienstaufsicht. Die Übung ging zu ende und ich verlies die Bundeswehr mit der der Einsatzmedaille der Bundesrepublik Deutschland, der NATO-Medaille, Einsatzerfahrung im multinationalen Verband, einen abgeschlossenen Studium als Diplom-Wirtschaftsingenieur, etwas weniger als 1000 Flugstunden, den fliegerischen Status „CR“ (Combat ready) und Panzerabwehrhubschrauberkommandant, und einen Zeugnis „zum Zugführer nicht geeignet„.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich den Gegenbeweis antreten solle – habe mich aber gegen eine Bewerbung bei der Bahn entschieden. Die Tiefflugstrecken dort waren mit etwas zu sehr festgelegt.